Von Christian Fuchs Schlager: Dieses Wort weckt sofort Assoziationen. Ich denke an eine überaus erfolgreiche deutsche Sängerin, die auf der Bühne kunstvoll in dicken Tanzrhythmen auftritt. Man denke an die austauschbaren Texte und das Wort „Kitsch“ in fetten Neonbuchstaben. Schlager, in hippen Kreisen gesagt, klingt einfach nur ironisch. Für Ulrich Seidl spielt zum Glück keiner dieser Gedanken eine Rolle. Er nimmt Schlager ernst, er sieht darin eine Form der Tragödie der Popkultur. Und er liebt nicht die zynischen Schönheiten der Branche, sondern die abgestürzten Ministars und ihre schmerzhaften Backstage-Geschichten. „Rimini“, Seidls neuer Film, erzählt die Geschichte eines gefallenen Pop-Engels, der ins Vakuum geht.
Schlager, Sex und Geisteskrankheit
Richie Bravo (Michael Thomas) war dort in den 1980er Jahren eine Zeit lang erfolgreich für das damalige Regionalradio. Jetzt, im Winter, wandert er in italienische Ferienorte, wo ihn einsame Rentner noch immer als Pop-Gott feiern. Während Ritchie über das Spielen in menschenleeren Hotellobbys singt, stirbt sein Vater (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) in einem österreichischen Pflegeheim langsam an Demenz. Ulrich Seidl ist ein Markenzeichen des österreichischen Kinos. Mit seinen provokativen Dokumentationen und kontroversen Spielfilmen wie „Dog Days“, „Import Export“ oder der „Paradise“-Trilogie spaltet er die Geister. International gilt Seidl als großer Künstler und Pionier des Tabukinos. In seinem neuen Film „Rimini“, der auf der Diagonale Premiere hat, folgt er einem alten Popsänger auf einer tragischen Reise. „Rimini“ läuft ab 8. April 2022 in den österreichischen Kinos. Die Sehnsucht nach Liebe und Sex, das angestaute Dasein der Figuren, die exzessive Körperlichkeit als Ausdruck einer inneren Leere: „Rimini“ ist ein typischer Film von Ulrich Seidl geworden – mal wieder nicht. Das Schicksal des erschöpften Machos Richie Bravo wird trotz seiner Grausamkeit sehr bewegend inszeniert. In typisch symmetrischen Bildern taumelt der große Michael Thomas im verschneiten Rimini, umgeben von einem cleveren Ensemble. Übrigens, der Soundtrack von Fritz Ostermayer und Fuzzman Herwig Zamernik bringt einen zum Weinen. Sie feiern den Schlag auch als Verbeugung vor der Verzweiflung. “Rimini” ist genau der Film, den sich Ulrich Seidl immer gewünscht hat – und er ist noch besser geworden als erwartet. Filmproduktion Ulrich Seidl
Rimini im Winter
Christian Fuchs: Ein betagter Schlagersänger spielt Solokonzerte in italienischen Hotels. Die Beschreibung klingt schon wie aus einem Ulrich-Seidl-Film. Wie kam es eigentlich zu dieser Idee? Ulrich Seidl: Die Idee zu Richie Bravo kam von Michael Thomas als Schauspieler, weil ich ihn vor vielen Jahren als Sänger kennengelernt hatte. Er sang keine Hits, aber er sang sehr eindrucksvoll und so entstand diese Idee für die Figur Richie Bravo. Ursprünglich war angedacht, dass er in einem Episodenfilm über Massentourismus als Entertainer sowie als etwas jämmerlicher, betagter Sänger mitspielen würde. Dieser Film wurde jedoch nie gedreht und Jahre später – nun, diese Idee ist sehr alt – stieß ich wieder darauf, diese Geschichte von Richie Bravo. Ja, dazu die italienische Adria im Winter, ein unglaublich menschenleerer Ort. Wie liefen die Dreharbeiten? Ich möchte sagen, dass dies kein verlassener Ort für mich ist. Also würden wir wegschauen, nämlich Rimini im Sommer, wenn die Strände voller Menschen sind, wenn hunderttausende Urlauber auf ihren Sonnenliegen unter Sonnenschirmen liegen, wo die Hitze unerträglich ist, wo es Lärm und Gestank gibt, also was es ist, sagen wir, wir stellen uns als Teil der Sehnsucht an der Adria vor. Für mich ist es überhaupt nicht, ich finde es schrecklich und ich finde die Winteratmosphäre sozusagen, wenn alles von Nebel bedeckt ist, wenn die Strände leer sind, wenn man dort alleine spazieren kann – dann finde ich es viel mehr interessant und tiefgründig und passt auch viel besser zur Geschichte von Richie Bravo, weil er nicht mehr auf dem Höhepunkt seiner Karriere steht, sondern mehr oder weniger erschöpft vor seinen Fans singt, die im Winter mit dem Bus kommen. Gleich zu Beginn sehen wir eine so charakteristische Attitüde von Ulrich Seidl, dass in der Presseshow ein Raunen durch die Menge drang. Wie gehen Sie mit der Erwartung um, dass Sie längst eine Marke geworden sind? Das ist mir egal, ich versuche bei jedem Projekt und jedem Film mein Bestes zu geben. Und natürlich hast du deine eigene Filmsprache, du hast deine eigene Perspektive. Wenn ich also einen Standort für mich auswähle, weiß ich sehr genau, warum ich ihn wähle. Und ich glaube, ich weiß – gemeinsam mit meinem Kameramann – ganz genau, warum wir dieses oder jenes Foto nicht machen. Das wissen wir zumindest – auch wenn wir oft nach besonderen Fotos Ausschau halten, die dem entsprechen, was wir hier meinen. Filmproduktion Ulrich Seidl
Böswillige Spiele zwischen Geschwistern
Sie kombinieren oft verschiedene Themen. Also immer – dazu kommen wir später – liegt der Fokus sowohl auf der Sexualität als auch auf der Einsamkeit einer Figur. Doch in „Rimini“ gibt es nun einen Hintergrund der Flüchtlingskrise, der in die Geschichte eindringt. Gab es so etwas wie eine Idee von Anfang an? Was die Flüchtlinge betrifft, so war das von Anfang an so, das steht im Drehbuch, ebenso wie Tessas arabischer Freund, die Tochter von Richie Bravo. Und dass es immer mehr werden, dass Tessa am Ende des Films in die Villa Bravo zieht, also zu ihrem Vater, mit allem Gefolge, das ist das Drehbuch, das ist die Handlung. Und dass Flüchtlinge in Rimini oft sitzen oder liegen oder laufen, ist natürlich ein Spiegelbild unserer Realität und das war mir sehr wichtig, das hier zu zeigen. Wie wir alle wissen, betrifft es nicht nur Rimini, es betrifft uns alle in Europa, und das ist unsere Realität, der wir uns stellen müssen. Die meisten Spielfilme sind Ensembledramen. Richie Bravos Charakter steht dieses Mal sehr im Fokus. Aber auch die anderen Figuren sind wichtig – der von Georg Friedrich gespielte Bruder, der an Demenz erkrankte Vater, die Frauen um ihn herum. Wäre es wirklich etwas anderes als Ihre eigenen Seidl-Kurzfilme? Weil ich gehört habe, dass es vielleicht einen separaten Film über die Bruderfigur geben wird. Es ist einfach so. Es wird einen zweiten Film mit dem Titel “Sparta” mit Richie Bravos jüngerem Bruder geben, gespielt von Georg Friedrich, und dieser Film wird in Rumänien spielen. Es war ursprünglich ein Theaterstück namens „Evil Games“, in dem beide Brüder in parallelen Handlungssträngen in einem Film erzählt werden sollten, natürlich mit dem Vater, der auch in „Rimini“ und „Sparta“ vorkommt. Schon am Schneidetisch habe ich gemerkt, dass es viel emotionaler ist, zwei Filme zu machen. Filmproduktion Peter Rigaud / Ulrich Seidl
Strahlender Held im Abgrund
Alle Seidl-Filme sind bewegend, Dokumentationen sicher auch. Aber dieser Film noch mehr auf seine eigene Art, ich muss sagen, ich habe Tränen vergossen. In gewisser Weise ist es fast Ihr zärtlichster Film. Das wurde während der Dreharbeiten entwickelt, ist es Michael Thomas, ist das das Problem? Ich bin diesen Film nicht analytisch angegangen: Jetzt will ich endlich etwas zärtlicher sein als vorher. Es ist einfach so passiert, möglicherweise unbewusst, aber Richie Bravo als Filmfigur ist nicht der glamouröse Held, muss man sagen. Aber er ist ein Mensch. Mit vielen Abgründen, mit vielen -vielleicht- Eigenschaften, die nicht jeder Zuschauer wohlfühlt. Aber das Interessante an ihm ist, dass er ein Charakter ist, der einerseits sein Leben nicht im Griff hat, aber weiter darum kämpft, es in den Griff zu bekommen. Und wenn er auf der Bühne steht, ist er für seine Fans der glamouröse Held und was er singt, ist ehrlich, er meint es ernst. Trotz aller Zärtlichkeit gibt es in “Rimini” Momente absoluter Selbstentblößung. Amateurschauspieler sind eine Sache, aber wie bringt man professionelle Schauspieler dazu, an diese Orte zu gehen? Ich unterscheide nicht zwischen professionellen Schauspielern und Laien, weder in der Arbeitsweise noch in der Vorbereitung des Films. Und sie dazu zu bringen, bedeutet nichts anderes als eine gute Vorbereitung, und die Schauspieler, die mit mir arbeiten, wissen, was sie erwarten können, und unterstützen sie. Du musst sie nicht zu einer Sexszene überreden, sie wissen, dass es für diesen Film notwendig ist, und sie wissen auch, wie man es zeigt. Und sie haben viele Freiheiten – das dürfen wir hier nicht vergessen. Filmproduktion Ulrich Seidl
Für Authentizität, gegen Zynismus
Hat die Exposition gegenüber Ihren Filmen mit einem echten Aussehen zu tun? Also nicht dieser verdeckte Blick auf Social Media, sondern um Sexualität in ihrer Authentizität zu zeigen? Sie sind falsch zu entlarven. Da muss ich widerstehen. Es ist eine Wahrheit. Vielleicht die Wahrheit statt der wahren Vision, ja. Wir haben eine bestimmte Sache im Kopf …