23:31 Uhr  7. April 2022
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        Das Set © (c) Karlheinz Fessl

Wie wäre es, was wirklich nicht gesagt werden kann? Wie gibt man Opfern, denen man so lange nicht geglaubt hat, eine Stimme? Und warum wollte niemand sehen, was der Kärntner Kinderarzt und Therapeut Franz Wurst über fünf Jahrzehnte mit den Kindern gemacht hat? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Stück „Nicht sehen“ am Stadttheater Klagenfurt. Und wie! Was dem Team um den jungen israelischen Regisseur Noam Brusilovsky in 100 witzigen Minuten gelingt, ist so etwas wie eine Operation am offenen Herzen in Kärnten. Brusilovsky verbindet gekonnt die Vergangenheit mit der Gegenwart, lässt moderne Zeugen auftauchen und holt auch die Jugend von heute auf den Plan. Die beiden professionellen Schauspieler Petra Morzé und Axel Sichrovsky geben den Opfern eine Stimme. Ruhig und konzentriert sprechen sie über den systematischen Missbrauch und die unglaubliche Gewalt, die diesen Kindern zugefügt wurde. In einer bewegenden Szene treten sie aus ihrer anspruchsvollen Rolle heraus, um zu erklären, dass sie nichts weniger als die Wahrheit sagen und Opfer „repräsentieren“, denen man so lange nicht geglaubt hat. Der Rest der Bühnengruppe sind Amateure, Experten und Zeitzeugen. Horst Ragusch ist als Hüter von Klagenfurt und Nachtwächter der Stadt für das „Wohl der Einwohner“ zuständig, führt durch die Arbeit, durch die Stadt und durch die Geschichte(n). Sie ging zum Beispiel an die Alpen-Adria-Universität, wo die Psychotherapeutin Jutta Menschik-Bendele lehrte, und musste aus bitterer Erfahrung lernen, dass ihre Warnungen vor Franz Wurst von Politikern und Kollegen einfach nicht gehört werden wollten. Auch diejenigen, die Franz Wurst ihre schützende Hand entgegenstreckten, werden im Stück deutlich genannt: der langjährige Landeshauptmann Leopold Wagner etwa oder der Landesrat für Gesundheit, Soziales und Krankenhäuser Rudolf Gallob. Die Reise geht weiter zur Villa des Ehepaars Wurst in Pörtschach, wo Ricarda Wulz als junge Lehrerin von ihrer Kollegin Hilde Wurst zu Kaffee und Kuchen eingeladen wurde – und es war äußerst seltsam zu sehen, was „die Villa wirklich ist“. Die Geschichten der Opfer über Sexpartys in derselben Villa folgen einem scharfen Schnitt. Schein und Sein, Opfer und Täter, Position und soziale Behinderung: All diese unterschiedlichen Ebenen werden akustisch und visuell geschickt miteinander verschränkt. Wenn die Experten sprechen, ist im Hintergrund das Geräusch von Kaffeetassen oder das Rauschen der Universität zu hören. Und auch der Lärm, den Jugendliche machen, wenn sie die Schule zum Mittagessen verlassen: Muaz Abou Noumeh erzählt in einer besonders bewegenden Szene von seiner Flucht von Damaskus nach Kärnten, die im ehemaligen Jugendheim Görtschach bei Ferlach endete, überall dort, wo Franz Wurst systematisch missbraucht wurde Kinder. Später wurde es ein Heim für unbegleitete Minderjährige und ein Ort des Trostes für Moaz: Er wurde dort mit Pizza und Schokolade auf seinem Kopfkissen begrüßt. Mehr als ein Hoffnungsschimmer in dieser düsteren Geschichte: Es könnte auch ein Happy End geben.

Foto © Karlheinz Fessl

Auch die Mitglieder der Drama Clubs, die harten jungen Leute von heute, unterstützen die Hoffnung: Sie wissen, wie man ins dunkle Netz kommt, sie wissen, wie man eine Leiche wegwirft, sie wissen, wo im Strandbad Marihuana geraucht wird. Und sie wissen alles über Franz Wurst. In einer beeindruckenden Schlussszene öffnen sich drei Transparente mit der Aufschrift: „We see you“. Sie möchten glauben, dass dies diesen jungen Menschen heute nicht mehr passieren kann. Und dann liest man in den Nachrichten, dass gerade ein 35-jähriger Kinderarzt und Jugendtrainer in Niederösterreich angeklagt wurde, der fast zwanzig Kinder missbraucht hat. Wer schützt die, die sich nicht schützen können? Nur wer wirklich hinschaut. Eine Mahnung, die dringender nicht sein könnte. Und eine Erinnerung, die mit Standing Ovations vom begeisterten und beeindruckten Publikum gefeiert wurde. Ich kann nicht sehen. Werk von Noam Brusilovsky. Das Stück basiert auf dem kürzlich erschienenen Buch „Im Namen der Wissenschaft und des Kindeswohls“, für das die vier Autorinnen der Studie unter Leitung der Soziologin Ulrike Loch den Fall Wurst systematisch aufgearbeitet haben. Mit Petra Morze, Axel Sichrovsky. Spezialisten: Muz Abou Noumeh, Horst Ragusch, Jutta Menschik-Bendele, Ricarda Wulz. Neue Darsteller: Oskar Haag, Lena Ronja Abl, Csaba Csögör, Noemi Beata Lang, Theresa Mößler, Maxima Rab, Linus Reimüller, Chiara Valentina Tarchini Weitere Termine: 20., 22., 30. April; 11., 13., 17., 19. Mai. 19.30 Uhr, Stadttheater Klagenfurt Karten: Tel. 0463/54 0 64. www.stadttheater-klagenfurt.at


title: “Gelungene Operation Am Offenen K Rntner Herzen Kleinezeitung.At " ShowToc: true date: “2022-11-16” author: “Odessa Richards”


Von Marianne Fischer 23:31 Uhr  7. April 2022
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        Das Set © (c) Karlheinz Fessl

Wie wäre es, was wirklich nicht gesagt werden kann? Wie gibt man Opfern, denen man so lange nicht geglaubt hat, eine Stimme? Und warum wollte niemand sehen, was der Kärntner Kinderarzt und Therapeut Franz Wurst über fünf Jahrzehnte mit den Kindern gemacht hat? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das Stück „Nicht sehen“ am Stadttheater Klagenfurt. Und wie! Was dem Team um den jungen israelischen Regisseur Noam Brusilovsky in 100 witzigen Minuten gelingt, ist so etwas wie eine Operation am offenen Herzen in Kärnten. Brusilovsky verbindet gekonnt die Vergangenheit mit der Gegenwart, lässt moderne Zeugen auftauchen und holt auch die Jugend von heute auf den Plan. Die beiden professionellen Schauspieler Petra Morzé und Axel Sichrovsky geben den Opfern eine Stimme. Ruhig und konzentriert sprechen sie über den systematischen Missbrauch und die unglaubliche Gewalt, die diesen Kindern zugefügt wurde. In einer bewegenden Szene treten sie aus ihrer anspruchsvollen Rolle heraus, um zu erklären, dass sie nichts weniger als die Wahrheit sagen und Opfer „repräsentieren“, denen man so lange nicht geglaubt hat. Der Rest der Bühnengruppe sind Amateure, Experten und Zeitzeugen. Horst Ragusch ist als Hüter von Klagenfurt und Nachtwächter der Stadt für das „Wohl der Einwohner“ zuständig, führt durch die Arbeit, durch die Stadt und durch die Geschichte(n). Sie ging zum Beispiel an die Alpen-Adria-Universität, wo die Psychotherapeutin Jutta Menschik-Bendele lehrte, und musste aus bitterer Erfahrung lernen, dass ihre Warnungen vor Franz Wurst von Politikern und Kollegen einfach nicht gehört werden wollten. Auch diejenigen, die Franz Wurst ihre schützende Hand entgegenstreckten, werden im Stück deutlich genannt: der langjährige Landeshauptmann Leopold Wagner etwa oder der Landesrat für Gesundheit, Soziales und Krankenhäuser Rudolf Gallob. Die Reise geht weiter zur Villa des Ehepaars Wurst in Pörtschach, wo Ricarda Wulz als junge Lehrerin von ihrer Kollegin Hilde Wurst zu Kaffee und Kuchen eingeladen wurde – und es war äußerst seltsam zu sehen, was „die Villa wirklich ist“. Es folgen Geschichten von Opfern sexueller Partys in derselben Villa. Schein und Sein, Opfer und Täter, Position und soziale Behinderung: All diese unterschiedlichen Ebenen werden akustisch und visuell geschickt miteinander verschränkt. Wenn die Experten sprechen, ist im Hintergrund das Geräusch von Kaffeetassen oder das Rauschen der Universität zu hören. Und auch der Lärm, den Jugendliche machen, wenn sie die Schule zum Mittagessen verlassen: Muaz Abou Noumeh erzählt in einer besonders bewegenden Szene von seiner Flucht von Damaskus nach Kärnten, die im ehemaligen Jugendheim Görtschach bei Ferlach endete, überall dort, wo Franz Wurst systematisch missbraucht wurde Kinder. Später wurde es ein Heim für unbegleitete Minderjährige und ein Ort des Trostes für Moaz: Er wurde dort mit Pizza und Schokolade auf seinem Kopfkissen begrüßt. Mehr als ein Hoffnungsschimmer in dieser düsteren Geschichte: Es könnte auch ein Happy End geben.

Foto © Karlheinz Fessl

Auch die Mitglieder der Drama Clubs, die harten jungen Leute von heute, unterstützen die Hoffnung: Sie wissen, wie man ins dunkle Netz kommt, sie wissen, wie man eine Leiche wegwirft, sie wissen, wo im Strandbad Marihuana geraucht wird. Und sie wissen alles über Franz Wurst. In einer beeindruckenden Schlussszene öffnen sich drei Transparente mit der Aufschrift: „We see you“. Sie möchten glauben, dass dies diesen jungen Menschen heute nicht mehr passieren kann. Und dann liest man in den Nachrichten, dass gerade ein 35-jähriger Kinderarzt und Jugendtrainer in Niederösterreich angeklagt wurde, der fast zwanzig Kinder missbraucht hat. Wer schützt die, die sich nicht schützen können? Nur wer wirklich hinschaut. Eine Mahnung, die dringender nicht sein könnte. Und eine Erinnerung, die mit Standing Ovations vom begeisterten und beeindruckten Publikum gefeiert wurde. Ich kann nicht sehen. Werk von Noam Brusilovsky. Das Stück basiert auf dem kürzlich erschienenen Buch „Im Namen der Wissenschaft und des Kindeswohls“, für das die vier Autorinnen der Studie unter Leitung der Soziologin Ulrike Loch den Fall Wurst systematisch aufgearbeitet haben. Mit Petra Morze, Axel Sichrovsky. Spezialisten: Muz Abou Noumeh, Horst Ragusch, Jutta Menschik-Bendele, Ricarda Wulz. Neue Darsteller: Oskar Haag, Lena Ronja Abl, Csaba Csögör, Noemi Beata Lang, Theresa Mößler, Maxima Rab, Linus Reimüller, Chiara Valentina Tarchini Weitere Termine: 20., 22., 30. April; 11., 13., 17., 19. Mai. 19.30 Uhr, Stadttheater Klagenfurt Karten: Tel. 0463/54 0 64. www.stadttheater-klagenfurt.at