Obwohl Russland derzeit fast kein Gas nach Deutschland liefert, wird es dort noch immer stark zur Stromerzeugung genutzt. Das ist ein Problem für die Füllung der Erdgasspeicher – und für die Strompreise.
Wissenschaftler des Fraunhofer ISE in Freiburg sammeln seit Jahren täglich alle Daten, die die Strombörse liefert, und verarbeiten sie. In diesem Frühjahr erlebten sie eine Überraschung: Während Russland die Erdgaslieferungen drastisch drosselte und die Politik zu Gaseinsparungen aufrief und gleichzeitig die Erdgaspreise in unvorstellbare Höhen stiegen, erreichte die Stromerzeugung aus Erdgas im Mai ein Rekordhoch. LPG-Tanks füllen sich entsprechend langsam, und die gesetzlich vorgeschriebenen Vorräte für den nächsten Winter sind entsprechend schwieriger zu beschaffen. Bis heute, Mitte Juli, hat sich nichts geändert. Wind und Sonne liefern ähnlich viel Strom wie in den Vorjahren. Warum wird also so viel Gas zur Stromerzeugung verbraucht?
Ersetzen gestörter französischer Kernkraftwerke
Die Gründe dafür sind in Frankreich zu finden. Dort gibt es 56 Kernkraftwerksblöcke, von denen 16 für einige Wochen wegen routinemäßiger jährlicher Wartung abgeschaltet sind. Hinzu kommt, dass ein Dutzend weitere aufgrund von Korrosion in den Kühlrohren oder Verdacht auf derartige Schäden für längere Zeit außer Betrieb sind. Wo Risse festgestellt wurden, hofft Betreiber EDF, diese bis Herbst reparieren zu können. Allerdings warnt der Konzern bereits vor möglichen längeren Ausfallzeiten. Und selbst wenn einzelne Blöcke wieder anlaufen, müssen auch andere baugleiche Atomkraftwerke auf Risse überprüft werden – und auch deutsche Kraftwerke werden die Lücke noch lange füllen müssen.
Deutschland exportiert seit Jahren mehr Strom als es importiert. Und dieses Jahr – wie gewohnt – einige Terawattstunden in die Benelux-Staaten und nach Tschechien. Ungewöhnlich jedoch: Mehr als acht Terawattstunden flossen in Frankreich, weitere zehn Terawattstunden in Österreich und mehr als drei in der Schweiz. Ein Großteil davon wurde nach Italien geleitet, das normalerweise auch französische Atomkraft kauft. So liefen deutsche Gaskraftwerke, um den Ausfall maroder französischer Reaktoren zu kompensieren. Diese Situation führte auch in Deutschland zu einem Anstieg der Strompreise.
Warum steigen die Strompreise?
Die Strompreise an den Börsen sind von rund vier Cent auf über 20 Cent gestiegen. Doch trotz allem trägt Erdgas nur etwa 15 Prozent zur deutschen Stromerzeugung bei. Auch wenn der Erdgaspreis massiv steigt, überrascht die Vervielfachung der Wechselkurse für Strom. Die Braunkohle wird von den Kraftwerksbetreibern zu praktisch unveränderten Kosten selbst aus dem Boden gefördert. Wind, Sonne und Wasserkraft wurden eher billiger als teurer. Allerdings bieten die Sonderregeln der Strombörse den Betreibern solcher Anlagen enorme Gewinne.
Beim kurzfristigen Handel wird zunächst abgeschätzt, wie viel Strom in den nächsten Stunden oder am nächsten Tag benötigt wird und wie viel davon durch Wind und Sonne gedeckt werden kann. Dann startet eine Auktion, bei der die billigsten Kraftwerke, hauptsächlich Braunkohle, den Vorrang haben. Je mehr Strom benötigt wird, desto teurere Kraftwerke – oft Kohlekraftwerke – kommen ins Spiel. Schließlich bieten die teuersten – also Gaskraftwerke – ihren Strom an. So weit, so vernünftig. Am Ende bekommen aber alle Erzeuger – auch die günstigsten – den Preis, den das teuerste Kraftwerk erzielt. Und da sich die Preise für den langfristigen Stromhandel auch an kurzfristigen Wechselkursen orientieren, sind die Preise ebenfalls massiv gestiegen.
Da Energieversorger die meisten ihrer Produkte üblicherweise ein bis drei Jahre im Voraus von Erzeugern kaufen, wird sich dieser Anstieg für Endkunden erst in den kommenden Jahren bemerkbar machen. Experten rechnen jedoch mit einem Anstieg der Endkundenpreise von heute rund 35 Cent pro Kilowattstunde auf bis zu 55 Cent im nächsten Jahr. Für einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt wären das 760 Euro Aufpreis pro Jahr.
Was tun mit „Kriegsgewinnen“?
Gleichzeitig steigen die Gewinne der Kraftwerksbetreiber um rund 60 Milliarden Euro pro Jahr. Auf Vorschlag von Finanzminister Robert Habeck (Grüne) hat der Bundestag nun ein Gesetz verabschiedet, das Kohle- und Ölkraftwerke, die bisher nur als Reserve bereitstanden, wieder an den Regelmarkt bringen und Gas verdrängen soll -befeuerte Kraftwerke . Der Erdgasverbrauch ließe sich dadurch senken – die Preise aber kaum. Denn sowohl Kohle als auch Öl wurden bisher größtenteils aus Russland geliefert und der Preis ist deutlich gestiegen.
Schon im März hatte Minister Habeck öffentlich überlegt, überschüssige Gewinne zu beseitigen, etwa durch eine Sondersteuer. Auf Nachfrage der ARD teilte ihm das Ministerium mit, dass dies sehr schwierig sei – man arbeite noch an Ideen dafür.
Kraftwerke, die wieder ans Netz gehen könnten
Über diese und weitere Themen berichtet Plusminus heute ab 21.45 Uhr im Ersten.