Sebastian Koch: Das ist ein Richter, den wir uns alle wünschen: demokratisch, unbestechlich, mit Verstand. Und plötzlich gerät jemand in die prekäre Situation, sein Kind nur retten zu können, wenn man seine eigenen Prinzipien ins Meer wirft. Alle Werte, die er verinnerlicht hat, gelten nicht mehr. Das ist sehr, sehr spannend. Die erste Lüge des Richters ist noch eine intuitive Reaktion, entfacht aber auf diese Weise eine Lawine, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Er sieht keine andere Wahl. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und das eigene Wertesystem funktioniert plötzlich nicht mehr. Für mich ist es eine atemberaubende Spannung, es ist eine Fahrt mit einem Vergnügungsparkzug. Als Al Munteanu es mir vor vier Jahren vorstellte, dachte ich sofort: Da geht uns gerade etwas durch den Kopf, das den Zeitgeist trifft. Dieser Richter hat hohe moralische Standards. Warum lässt er sich von diesen ungeheuerlichen Taten verführen? Denn er ist fest davon überzeugt, dass er nur so sein Kind retten kann. Er verurteilte den serbischen Stammesführer zu 16 Jahren Gefängnis und als sich herausstellte, dass der an dem Unfall beteiligte Motorradfahrer der Sohn dieses Chefs war, erkannte der Richter, dass das Leben seines Jungen in absoluter Gefahr war. Er denkt nicht, er handelt nur. Als Zuschauer folgt man diesem Weg, wenn auch zögerlich, bis zum bitteren Ende. Das macht die Geschichte so großartig. Zuerst will er zur Polizei gehen … Ja, sein erster Impuls ist, Hit-and-Run zu erwähnen. Hier kommt der Richter her: Recht und Ordnung. Als er herausfand, wen sein Sohn von seinem Motorrad aus gefahren hatte, legte er einen Schalter um. Das ist der Auslöser. Er hat keinen Plan, er ist immer überrascht, er muss auf die nächste Katastrophe reagieren, die die vorherige ausgelöst hat. Ein echter Dominoeffekt. Sie waren von Anfang an in die Produktion involviert, weil Sie am Drehbuch beteiligt waren. War es etwas Neues für Sie? Und was waren die Vorteile? Auch für mich ist es neu, so früh an einem Projekt mitzuwirken. Bei „Das Leben der Anderen“ und anderen Produktionen war ich schon früh involviert, aber nicht in dieser Intensität. Es ist ein großer Vorteil, wenn Autoren, Regisseure und Schauspieler so früh zusammenkommen. Sie haben jede Szene, jede Situation gemeinsam am Tisch besprochen und herausgefunden, was Sie mit filmischen Mitteln zwischen den Zeilen sagen können, ohne alles über den Text zu erklären. Außerdem kannst du die Geschichte immer wieder auf Logik und Plausibilität überprüfen. Später, im Set, hat man alles erlebt und auf Schwächen geprüft. Das spart unendlich Zeit beim Download. Warum wollte Al Munteanu Sie so früh in dieses Projekt einbeziehen? Als er mich von einer Messe in Paris anrief und mir die Geschichte erzählte, war ich sofort elektrisiert. Ich hatte das Gefühl, dass etwas den Nerv unserer Zeit trifft, also habe ich spontan zugesagt, etwas, das normalerweise nicht mein Stil ist. Aber das war es wert. Wie bist du als Kulisse nach Tirol gekommen? Dass der Brenner ein Schmuggelort ist, ist nicht so bekannt, aber er ist es auf jeden Fall. Du denkst immer, das passiert woanders, aber nicht in unserer Nähe. Darüber hinaus haben Innsbruck und das Tiroler Land eine enorme Kraft als Filmstandort. Die Stadt liegt in einer Art Talkessel, die Berge können durchaus bedrohlich wirken. Das passt perfekt zu dieser Geschichte. Tobias Moretti spielt eine eher zwielichtige Rolle. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm? Alles wunderbar wie immer (lacht). Wir kennen uns seit 20 Jahren und haben bestimmt schon vier oder fünf Filme zusammen gemacht. Die erste Zusammenarbeit war der Film über die Entführung von Richard Oetker im Jahr 2001. Wenn man sich schon so lange kennt, kann man sich aufeinander verlassen. Wie waren die Drehbedingungen beim Lockdown? entbehrlich! Lockdown Shots bedeuten für alle Beteiligten viel Disziplin und die strikte Einhaltung vieler Hygienevorschriften. Alle legten großen Wert darauf, schließlich wollte niemand seine Kollegen oder das Projekt gefährden. Es gab eine große Solidarität zwischen uns allen, das fand ich beeindruckend. Gleichzeitig waren exzessive Nachtaktivitäten sehr begrenzt. Faszinierend ist auch die Rolle der Paula Beer, die sich in einer hermetischen Männerwelt zurückhalten muss. Sie ist einfach eine tolle Schauspielerin. Ich kenne sie aus unserem gemeinsamen Film „Werk ohne Autor“ von Florian Heckel von Donnersmarck, als sie meine Tochter spielte. Es hat einfach eine unglaubliche Präsenz, besonders dieses Eiskalte, das schockierend spielt. Wie es war, mit Taddeo Kufus zu arbeiten, er ist jung. Es war fantastisch, wir haben es sofort gemacht. Wir alle wussten schon beim Casting: Das ist es. Das Drama wird in erster Linie durch seine Rolle ausgelöst. Wenn diese Vater-Sohn-Beziehung nicht stimmt, dann stimmt das Ganze nicht. Glauben Sie, dass es in Zeiten des Krieges in Europa derzeit schwieriger für solche Stoffe ist, weil Sie sich vielleicht mit leichteren Stoffen ablenken möchten? Oder benötigen Sie gerade solche Stoffe, die auch unter extremen Bedingungen verarbeitet werden können? Die Handlung ist fast eine Metapher für unsere aktuelle Weltsituation. Die Serie gibt keine Antworten, sondern stellt genau diese Fragen: Was tun wir in Extremsituationen? Müssen wir wieder zu den Waffen greifen? Funktioniert unsere Demokratie noch? Oder können wir in den Diskussionen noch Lösungen finden? Oder nehmen Sie einfach den Klimawandel. Wir wissen seit Jahren, dass wir mit unserem Verhalten an die Wand stoßen werden und machen einfach weiter. Wider bestem Wissen. Beeindruckend ist die Szene mit Tobias Moretti, der in seinem Schlachthof böse Pläne schmiedet und sich dann um einen verletzten Angestellten kümmert. Das ist das Schöne an Geschichten, wenn das Gute und das Schlechte nicht so offensichtlich sind. Es ist immer wieder spannend, wenn man als Zuschauer die Pflicht hat, selbst zu urteilen. Wie gefällt Ihnen die Arbeit für die Oscars? Sehr. Ich habe alle Filme sehr früh bekommen. Es gab viele Highlights und ab November konnte ich mir diese tollen Produktionen auf einem Homescreen anschauen. Es ist eine große Ehre und macht viel Spaß. Sie sind auch in der Deutschen Filmakademie aktiv … Nein, ich habe gekündigt. Vieles an der Akademie ist für mich sehr akademisch … (lacht) Sie haben zuletzt weniger für das deutsche Fernsehen gemacht. Wieso den; Ich arbeite generell weniger und wähle noch sorgfältiger aus. „Exzellenz“ war mal wieder ein Thema, das mir sofort ins Auge gesprungen ist. Und ich fand es schön, relativ früh an der Entwicklung teilhaben zu können. Mir ist nicht so wichtig, wo ich arbeite, sondern was ich mache, ob es mir Spaß macht und wen es interessiert. Sie werden Ende Mai 60 Jahre alt. Ist das auch ein magisches Date, bei dem Sie es ruhig angehen lassen? Ich glaube nicht, dass es mit dem Alter zu tun hat. Wie gesagt, ich bin etwas spät dran. Ich will nicht ständig unterwegs sein, ich versuche alles ein bisschen mehr zu genießen, zum Beispiel wieder mehr Musik zu machen. Ursprünglich wolltest du Musiker werden, was machst du gerade in dieser Richtung? Ich spiele wieder viel Gitarre, auch mit anderen Musikern, einfach so. Es macht viel Spaß, ich hatte vorher nie die Zeit dazu. Zur Schauspielerei sind Sie wegen der Peymann-Produzenten gekommen. Als ich 14 oder 15 war, war er künstlerischer Leiter in Stuttgart. So habe ich das Theater erst kennengelernt und fand es toll, das Peymann-Ensemble war eine große Familie: Branko Samarovski, Kirsten Dene, Gert Voss. Sie verbrachten Jahrzehnte zusammen, ein ganzes Theaterleben. Da merkte man, dass das eine große Familie war. Aber natürlich ist Peymann auch in Österreich ein großer Name. In Wien fand er eine besondere Reibungsfläche. Was gut ist, das war in Stuttgart nicht anders. Etwa in Bernhards Filbinger-Drama „Vor der Rente“ oder als er für die Zahnpflege von RAF-Terroristen in Stammheim spendete. Auch das war damals ein Aufschrei. Aber das kann und soll das Theater leisten. Ist Theater für Sie heute noch so relevant wie damals? Ich liebe das Theater, das mich emotional berührt, das mich nicht mehr loslässt. Und durch dieses Gefühl kann ich mich noch Jahre später an die Fotos erinnern. Ich finde es heutzutage selten. Sie sind alle sehr geschickt, technisch fähig, aber so oft vermisse ich die Energie des Herzens, die Liebe. Wir haben gerade viel Energie in unseren Köpfen.