Die SPD reagierte verärgert auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung, wonach Konrad Adenauer (CDU) als Bundeskanzler seit fast zehn Jahren die SPD-Spitze bespitzelt habe. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert forderte die CDU auf, die Verfahren abzuarbeiten. „Es ist eine beispiellose Tatsache in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass der erste demokratische Bundeskanzler unter Missachtung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien seine Macht systematisch ausgebaut und gefestigt hat“, sagte Kühnert der Süddeutschen Zeitung. “Es ist an der Zeit, dass sich die deutschen Christdemokraten einer kritischen Neubewertung stellen.” Die Enthüllung dieses “rücksichtslosen Machtmissbrauchs rückt Teile der Geschichte unserer Bundesrepublik in ein ganz anderes Licht”. Conrad Adenauer mit dem damaligen US-Präsidenten Richard Nixon im Jahr 1959: Der Bundeskanzler soll Informationen direkt von der SPD-Führung erhalten haben. (Quelle: JT Vintage / imago images)
Bericht: Fast 500 vertrauliche Berichte
Laut der Süddeutschen Zeitung hat Adenauer unter Berufung auf historische Dokumente die SPD-Führung mit Hilfe zweier Informanten weitaus stärker als bisher angenommen ausspioniert. Einer von ihnen soll direkt für die SPD-Spitze gearbeitet haben. Knapp 500 vertrauliche Berichte aus dem SPD-Vorstand erreichten das Kanzleramt unter Führung der CDU. Adenauer, der von 1949 bis 1963 regierte, wurde durch den Bundesnachrichtendienst (BND) häufig noch am selben Tag über Vorgänge in der Oppositionspartei informiert. Das alles stammt laut Veröffentlichung aus den Archiven der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, die der Historiker Klaus-Dietmar Henke ausgewertet hat und die der „Süddeutschen Zeitung“ eingesehen werden konnten. Henke ist Sprecher der Unabhängigen Historischen Kommission zur Erforschung der BND-Geschichte. Es sei heute sinnlos, darüber zu spekulieren, inwieweit die Geschichte ohne diese massive politische Wettbewerbsverzerrung anders verlaufen wäre, sagte Kühnert. Der Brisanz der Erkenntnisse tut dies jedoch keinen Abbruch. In diesem Zusammenhang sollten Geschichtsbücher und Biographien umgeschrieben und insbesondere „das Werk Adenauers wegen Missbrauchs durch den Auslandsgeheimdienst neu eingestuft werden“.
Einer der Ausspionierten war Willy Brandt
Es war bereits bekannt, dass Adenauer durch seinen Stellvertreter Hans Globke und Reinhard Gehlen, den Chef der nach ihm benannten Gehlen-Organisation, die heimischen Konkurrenten überwachte. Das wohl bemerkenswerteste Beispiel ist Willy Brandt, der später Bundeskanzler der SPD wurde. Laut “SZ” offenbaren die nun ausgewerteten Unterlagen eine “neue Dimension” der Spionage im politischen Wettbewerb. Der BND wurde 1956 von der Organisation Gehlen gegründet. Die beiden Hauptlieferanten vertraulicher Informationen der SPD-Führung waren die beiden Sozialdemokraten Siegfried Ortloff und Siegfried Ziegler. Ortloff arbeitete für den SPD-Vorstand und war dort für die Abwehr kommunistischer Übergriffe zuständig. Ziegler war Mitglied der Gehlen-Organisation und Vorsitzender des SPD-Bezirks Starnberg. Beide gaben Gehlen Auskunft, der über Globke den Weg zum Adenauer fand. Adenauer etwa erfuhr, was im SPD-Vorstand über den damals angedachten Wechsel zum Mehrheitsvotum diskutiert wurde – oder wer der SPD-Kandidat bei der Bundestagswahl werden würde. Adenauer erhielt auch die vertrauliche Nachricht, dass der damalige Parteivorsitzende Erich Olenhauer bei der Bundestagswahl 1961 nicht mehr als Kanzlerkandidat kandidieren wolle.